43 Jahre war Volker Lange im polizeilichen Dienst - zum Schluss war er sogar Polizeidirektor. In seinem Buch erzählt er jetzt von Fällen, die unter die Haut gehen. Egal, ob ein Kind bei einem Autounfall stirbt oder man selber kurz davor steht, einen Menschen zu erschießen: Sein Alltag geht unter die Haut.
Gerade noch hat er einen betrunkenen Autofahrer angehalten und ihn einem Streifenteam übergeben, da steigt Volker Lange wieder auf sein Dienstmotorrad und fährt Richtung Kölner Norden. Es ist Sonntagvormittag, die Sonne scheint. Nicht mehr lange, dann ist die Frühschicht zu Ende. Lange freut sich auf den Feierabend mit seiner Freundin.
Unter einer Hochbahntrasse spielen Kinder. Ein Junge läuft auf den Motorradpolizisten zu. Das Auto, das von links kommt, bemerkt das Kind nicht. „Wie in Zeitlupe“, so schildert Volker Lange es heute, sieht er, wie der Kleine angefahren wird, stürzt und auf dem Asphalt aufschlägt. Der Polizist eilt zu ihm, legt einen Arm um ihn. Der Junge lebt, er sieht Volker Lange mit weit aufgerissenen Augen an und zittert am ganzen Körper. Rettungskräfte bringen ihn ins Krankenhaus. Die Hilfe kommt zu spät, das Kind stirbt noch am selben Tag.
Fast 40 Jahre später sitzt Lange im Wintergarten seines Hauses im Kölner Süden. Die Bilder von damals hat er noch genau vor Augen. „Während ich den schwer verletzten Jungen festhielt und versuchte, ihn zu trösten, sagte sein älterer Bruder zu mir: ‚Ist nicht so schlimm, Papa macht neu‘. Da schossen mir die Tränen in die Augen.“
Es sind Momente wie diese, die sich tief ins Gedächtnis des 60 Jahre alten Polizeidirektors eingebrannt haben. Momente, die herausstechen aus tausenden von Einsätzen, die Volker Lange in 43 Jahren bei der Polizei – davon einen Großteil in Köln – erlebt hat. Diesen Monat geht Volker Lange in den Ruhestand.
Der gebürtige Gelsenkirchener kennt alle Facetten der Schutzpolizei. Er war Streifenbeamter, Motorradpolizist und Zivilfahnder. Er hat Einsatztrupps geleitet, Einheiten bei der Hundertschaft und Spezialeinsatzkommandos geführt. Als Chef der Inspektion in Köln-Ehrenfeld war Lange zuletzt unter anderem zuständig für die Sicherheit rund um die Fußballspiele im Rhein-Energie-Stadion.
Sein zupackendes Wesen, seine Kommunikationsfreude und die Art, wie er Einsätze geleitet hat, haben den bulligen Polizeiführer bei Kollegen im ganzen Land bekannt gemacht. „Er war Polizist mit Leib und Seele“, beschreibt Jürgen Mathies, ehemaliger Kölner Polizeipräsident und heute Staatssekretär im NRW-Innenministerium, den langjährigen Kollegen.
Vor Volker Lange auf dem Tisch liegen ausgedruckte DIN-A4-Blätter, Kapitel aus seinem Buch „Mittendrin“, das kürzlich erschienen ist. Auf 200 Seiten schildern Lange und Tim Stinauer, Polizeireporter beim „Kölner Stadt-Anzeiger“, 19 Einsätze, die den 60-Jährigen zum Teil bis heute aufwühlen. Es sind Geschichten, die nie in der Zeitung standen – wie die über den tödlichen Unfall unter der Hochbahn oder über Begegnungen mit Rockern und einer Frau, die den Motorradpolizisten im Dienst verführen wollte.
Und es sind Geschichten, die Schlagzeilen machten – wie der Überfall gewalttätiger Fußballhooligans vor dem Kölner Stadion auf Lange und seinen Kollegen im Jahr 2011. Oder das Geiseldrama von Gladbeck 1988. Lange war in jenem Sommer Hospitant bei den Spezialeinheiten und dafür zuständig, die Journalisten in Schach zu halten.
Ein Auto mit TV-Reportern musste er auf einer Kölner Ausfallstraße sogar mit seinem Streifenwagen aus dem Weg rammen, erzählt er. „Sonst wäre ich nicht durch gekommen.“ In der Rückschau erinnert ihn das halsbrecherische Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und Medienvertretern an eine englische Treibjagd: „Es war der pure Wahnsinn. Die Hunde rennen kläffend durcheinander, springen über Bäche und klettern unterm Zaun durch. Genauso ist die Presse gefahren“, schreiben die beiden Autoren in „Mittendrin“.
Der Titel ist nicht zufällig gewählt. Langes Markenzeichen bei der NRW-Polizei war das „Führen von vorne“ – das hat er vorgelebt wie kein Zweiter. Wann immer es ging, war der Polizeidirektor bei Einsätzen selbst mittendrin. „Dann weißt du wenigstens, was Sache ist“, begründet er. „Ich wollte möglichst ein Gefühl für die Lage kriegen, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.“
Als vor einigen Jahren eine Gruppe Ultra-Fans von Bayer Leverkusen kurz vor dem Anpfiff der Partie beim 1. FC Köln im Oberrang vor den Linsen der Überwachungskameras plötzlich eine Feuerchoreografie vorbereiteten, stand das Spiel auf der Kippe. „Wir sahen die Gefahr, dass die Störer während der Partie brennende Fackeln in den Unterrang oder auf den Rasen werfen könnten“, erzählt Lange. Was also tun? Das Spiel kurzfristig absagen? Oder mit einer Hundertschaft den Block stürmen und die Ultras rausholen? Zu groß das Risiko von Verletzten, befand Lange.
Stattdessen betrat er den Fanblock allein, in Uniform. Ein paar Vermummte liefen hasserfüllt auf ihn zu. „Ich ließ 20 Sekunden Schimpftiraden über mich ergehen, dann sagte ich: Passt auf. Ihr seid 300, ich bin alleine. Der Anstoß steht auf der Kippe – wegen euch. So lange ihr das nicht einstellt, lassen wir keinen Leverkusener Fan mehr ins Stadion, und wir sagen denen auch, warum. Ich möchte eure Zusage, dass gleich nichts aufs Spielfeld geworfen wird. Dass nicht kollektiv gezündelt wird. Ihr habt fünf Minuten Zeit zu überlegen.“ Und es klappte. Die Ultras lenkten ein. Das Spiel wurde pünktlich angepfiffen, und es blieb friedlich.
Durch die Medien ging im Juni 1995 die Geiselnahme eines Touristenbusses in Köln-Deutz. Ein psychisch kranker, schwer bewaffneter Täter hatte 26 Menschen in seine Gewalt gebracht. Lange war mit seiner achtköpfigen Spezialeinheit damals der Erste, der am Tatort eintraf. Sein Kollege hatte plötzlich und für kurze Zeit den mutmaßlichen Kidnapper im Visier. Freie Schussbahn. Abdrücken oder nicht? Lange entschied: Nein.
Heute weiß man: Mit einem „Ja“ hätte er das Leben einer Geisel gerettet, die der Täter wenig später erschoss. „Aber mit meinem Wissen in dem Moment konnte ich das nicht verantworten. Es war unklar, ob der Mann im Zielfernrohr auch wirklich der Täter war und ob er vielleicht noch Komplizen an Bord hatte. Ich wollte das Leben der Geiseln nicht gefährden“, sagt Lange heute. Eine Entscheidung, die ihn lange verfolgt hat, die er aber nicht bereut. „Mit meinem damaligen Wissen würde ich heute wieder so entscheiden.“ Der Täter wurde später im Bus beim Zugriff durch zwei Schüsse getötet – einer vom SEK, einer aus seiner eigenen Waffe.
Freimütig berichtet Lange in „Mittendrin“ von der Last der Verantwortung, die jeder Polizist und jede Polizistin trägt. Seine eigenen Erlebnisse niederzuschreiben, habe ihm nachträglich geholfen, einiges zu verarbeiten, berichtet er. „Die Arbeit an dem Buch war zeitweise wie eine Therapie für mich.“ Auch wenn er selbst nie jemanden getötet hat – er habe aber Kollegen erlebt, die das getan haben. Manche seien innerlich daran zerbrochen, auch wenn sie juristisch betrachtet alles richtig gemacht hatten.
„Dieser Rabe Abraxas, der als schlechtes Gewissen auf deiner Schulter sitzt, kann sehr hartnäckig sein“, weiß Lange. „Er kann dir das Leben zur Hölle machen. Man kann kündigen, man kann seine Familie verlassen, man kann nach Honolulu auswandern – aber der Rabe ist immer da. Er begleitet dich, wohin du auch gehst. Er gehört zu dir. Es gibt Menschen, die gehen daran kaputt. Es gibt Kollegen, die deshalb von der Brücke gesprungen sind.“