VON CLEMENS SCHMINKE
Hätte er den Schießbefehl geben sollen? Oft hat sich Volker Lange diese Frage gestellt. Am 28. Juli 1995 war er als Kommandoführer mit einer Spezialeinheit zur Deutzer Messe gerufen worden, wo ein 31-jähriger Mann einen Reisebus mit 26 Touristen gekapert und den Fahrer erschossen hatte. Schon zu Beginn des Einsatzes hatte ein SEK-Kollege den Geiselnehmer im Visier und hätte abdrücken können. Lange entschied sich dagegen.
Die SEK-Männer wussten nicht, dass die mutmaßlichen Sprengvorrichtungen Attrappen waren. Fast acht Stunden dauerte das Geiseldrama, bei dem ein Beamter einer Polizeistreife und ein Tourist schwer verletzt wurden. Als der Geiselnehmer schließlich eine Touristin erschoss, erteilte der Einsatzleiter das Kommando für den Zugriff - inzwischen hatte er die Gewissheit, dass es ein Einzeltäter war. Bei der Erstürmung wurde der Mann angeschossen; auf dem Boden liegend, jagte er sich eine Kugel in den Kopf.
Tränen der Dankbarkeit
26 Jahre später sitzt Lange auf der Terrasse seines Hauses im Kölner Süden. Hätte er anders handeln sollen? Bei jeder Selbstbefragung sei er zu dem Ergebnis gekommen: "Ich würde es wieder so machen."
"Wer von vorne führt, weiß wenigstens, was Sache ist", sagt Lange. Seit 40 Jahren ist er Polizist in Köln. Zwar geht er erst im September in Pension, doch faktisch ist schon jetzt Schluss; 100 Urlaubstage und 500 Überstunden haben sich angehäuft. Sein Büro bei der Polizeiinspektion-West in Ehrenfeld, deren Leiter er seit 2010 ist, hat er ausgeräumt. "188 000 Einwohner in elf Stadtteilen auf 49 Quadratkilometern", so umreißt der 59-Jährige sein letztes Einsatzgebiet -"bunt, anspruchsvoll, spannend und liebenswert".
Bis 1981 absolvierte Lange in Bochum eine Ausbildung bei der Polizei. Nach dem Streifendienst in Nippes holte er das Fachabitur nach. Das Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Köln beendete er 1988 als Diplomverwaltungswirt und Polizeikommissar. Im Sommer, während seines Abschlusspraktikums, erlebte er die spektakuläre Geiselnahme mit, die mit einem Bankraub in Gladbeck begann, durch die halbe Republik bis in die Niederlande führte und auf der A3 bei Bad Honnef mit dem Zugriff des SEK der Kölner Polizei endete; drei Menschen kamen ums Leben. "Ich sollte das SEK nach hinten abschotten", sagt Lange. Im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Vorgängen sagte er als Zeuge aus.
Zwei Jahre war Lange Leiter der Zivilfahndung in Sülz, bevor er Kommandoführer für Spezialeinheiten wurde. Die Geiselnahme in Deutz ist nicht die einzige, von der er berichten kann. Im August 1993 hielt ein Ägypter eine Boeing 737 gut elf Stunden in seiner Gewalt und forderte die Freilassung von Scheich Abd ar-Rahman, der als Drahtzieher des Bombenanschlags auf das World Trade Center galt. In Düsseldorf stürmte ein GSG9-Kommando das Flugzeug ohne Blutvergießen. Vom Tower aus wohnte Lange den Verhandlungen mit dem Entführer bei und hoffte, an taktisch wichtige Informationen für den Zugriff zu kommen.
1998 war Lange im Rahmen eines EU-Austauschprogramms 14 Tage als "Interventionsmanager" bei der "Special Detective Unit" Irlands und erlebte in Dublin mit, wie ein Bombenanschlag der Terrororganisation IRA verhindert wurde. Mit einem Auto, in dem 450 Kilogramm Sprengstoff versteckt waren, wollte ein Mann auf eine Fähre gelangen. Der Einsatzleiter rammte den Wagen, und Lange, der neben ihm saß, half bei der Festnahme. "So konnten die Friedensverhandlungen, die zum Karfreitagsabkommen führten, erfolgreich zu Ende gebracht werden."
1999 bis 2001 studierte er an der Polizeiakademie in Münster und qualifizierte sich für den höheren Polizeivollzugsdienst: "Jetzt trug ich goldene Sterne." Sechs Jahre lang war er in Köln Führungsstellenleiter der Organisationseinheit Bereitschaftspolizei/Polizeisonderdienste mit gut 700 Beamten unter sich. Zu schützen waren der Köln-Marathon, die "Kölner Lichter", Radsportereignisse wie "Rund um Köln" und Staatsbesuche. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz habe er einmal dafür gesorgt, dass US-Verteidigungsmister Donald Rumsfeld ungestört "von A nach B kam", erzählt er. Mit etlichen Demonstrationen hatte er zu tun, etwa am 1. Mai in Berlin oder bei Castor-Transporten ins Atommülllager Gorleben.
Um die Sicherung von Massenereignissen ging es auch in der Zeit von 2007 bis 2010, als Lange in der Polizeiinspektion Mitte war. Christopher Street Day, Straßenkarneval oder Fußball-Jubelfeiern - im Rahmen der Ordnungspartnerschaft "OPARI" war Lange daran beteiligt, Kontrollen im Nachtleben auf den Ringen und in der Altstadt zu organisieren. Nach dem Einsturz des Stadtarchivs am 3. März 2009 war er 26 Stunden vor Ort und trug Mitverantwortung dafür, das Chaos zu bewältigen; danach war er Teil des Krisenstabs. "Der Einsturz hat mich erschüttert", sagt er.
Als Leiter der Polizeiinspektion Ehrenfeld koordinierte er Einsätze bei Spielen des 1. FC Köln. "Die ganz überwiegende Zahl der Fußballfans ist sportbegeistert und polizeilich völlig unauffällig", schreibt Lange in einem Beitrag für das Deutsche Polizeiblatt. Wegen gewaltbereiter Hooligans und anderer Krawallmacher habe er "den Spaß am Fußball verloren", sagt er. "Schläger, Störer und Straftäter" beanspruchten zu viel Aufmerksamkeit. Aufgeheizt war die Stimmung, als am 5. Mai 2012 bei der Partie gegen Bayern München der Abstieg bevorstand. Besucher zündeten Rauchbomben, brannten Pyrotechnik ab, einige kletterten über Absperrungen und stürmten aufs Feld. Die Polizei musste massiv eingreifen. Die übrigen Zuschauer dankten es mit Beifall und Gesang.
Schusswaffe gebraucht
"Ich bin jeden Tag gerne zur Arbeit gefahren", sagt er. "In keiner Dienstvorschrift steht, dass der Polizeidienst nicht auch Spaß machen darf!" Sechs Mal habe er von der Schusswaffe Gebrauch gemacht, drei Mal, um aggressive Hunde auszuschalten. Nie habe er mit einer Kugel einen Menschen getroffen. Nun will der Vater von zwei erwachsenen Töchtern Erinnerungen aufschreiben und ausgiebig Zweirad fahren - in 26 Ländern war er mit dem Krad schon unterwegs. Und nach der Corona-Krise, da will er im Kollegenkreis "eine ordentliche analoge Party feiern".